Lass los!

von Detlef Zabel

Endlich Ferien! Endlich geht es in den Urlaub! Ich konnte es kaum noch abwarten, dass wir das Auto packen und los in den Süden fahren würden. Es sollte wieder nach Bulgarien gehen, ans Schwarze Meer. Schon die Reise dorthin ist ein Abenteuer, welches wir schon einige Male gemacht haben. Und doch freuen wir uns jedesmal wieder darauf. Mein Bruder und ich sitzen dann Stunde um Stunde hinten im Auto und schauen aus dem Fenster, lesen oder hören Musik. Nach drei Tagen Fahrt sind wir angekommen. Endlich am Meer! Herrlich die Luft und das Meeresrauschen. Ich liebe es am Meer zu sein. Ich kann dann immer stundenlang am Strand laufen, die Freiheit genießen und von der Ferne träumen. Ja, zuweilen bin ich ein Träumer...

Es war ein wunderbarer Tag. Ich war wieder am Strand unterwegs und dann sah ich schon von weitem, dass dort halb im Wasser etwas großes Schwarzes lag. Als ich näher ran kam erkannte ich die große Baumwurzel. Sie zog mich magisch an. Und schon fing ich an zu überlegen. Wurzel ist Holz und Holz schwimmt. Gesagt getan! Ich zog mit aller Kraft das Ungetüm ins Wasser und tatsächlich: es schwamm! Ich kletterte drauf und wunderbar, es trug mich und ich fand sogar eine Stelle, auf der ich richtig sitzen konnte. Ich hatte ein Boot! Nun musste noch ein Paddel her. Ich fand in der Nähe ein passendes Brett, welches angespült worden war. Und so ging es los! Ich paddelte und konnte das urige Gefährt sogar etwas lenken. Es war einfach herrlich, in den Wellen zu fahren, die leichte Dünung machte ungeheuren Spaß. 

So fuhr ich in Ufernähe zurück an die Stelle, wo meine Familie am Strand lag und landete direkt vor ihnen und zeigte stolz mein Boot. Muttern war nicht so recht begeistert, aber mein Vater beruhigte sie und gab mir nur den Tipp, nicht so weit raus zu fahren. Nachdem sich Mutter etwas beruhigt hatte, stieg ich wieder auf und machte meine ersten Runden. 

Das war was. Ich auf "Großer Fahrt" mit meinem eigenen Boot. Das war Freiheit! Keine Luftmatratze, die ich mir mit meinem Bruder teilen musste. Und die Wellen erstmal. Zuerst war es anstrengend, hinter die Dünung zu kommen. War diese erstmal geschafft, kam ruhigeres Wasser. Und die Rückkehr war um so toller, wenn es mit den Wellen Richtung Strand ging. Das Leben war schön. Wenn wir abends wieder zum Zeltplatz hochgingen, zog ich mein Boot einfach an den Strand und freute mich schon auf den nächsten Tag, auf meine nächste Fahrt, raus auf´s weite Meer hinaus.

So ging es die nächsten Tage. Auf dem Wasser genoss ich das Leben, die Wellen, die Freiheit und träumte von der weiten Welt. Doch an jenem Tag war es irgendwie anders. Ich war wieder draußen auf dem Wasser und paddelte so durch die Gegend. Der Himmel sah schon so komisch aus. Ein leises Gefühl beschlich mich ganz langsam und sagte mir im Innern, irgendwas stimmt hier nicht. Mehr aus Reflex heraus fing ich an, langsam Richtung Ufer zu paddeln. Doch irgendwie schien ich nicht näher ans Ufer zu kommen. Dann wurde mir langsam klar, was hier los war. Der Wind hatte sich gedreht und statt näher ans Land zu paddeln trieb ich weiter raus aufs Meer. 

Der Strand entfernte sich immer mehr und die Menschen wurden immer kleiner. Panik stieg langsam in mir auf. Was soll ich jetzt nur tun? Mehr und stärker Paddeln! Aber es gelang nicht! Sollte ich abspringen und zum Strand schwimmen? Schwimmen konnte ich ganz gut, aber mein Boot verlassen? Totaler Quatsch! Es muss doch irgendwie gelingen, wieder Richtung Ufer zu kommen. Ich stand auf und sah von weitem meinen Vater am Strand stehen. Er wedelte mit den Armen und deutete mir, zurück zu kommen. Ja, wie denn? Ich strengte mich an wie ich nur konnte und gab alles was ich an Kräften hatte, doch es reichte einfach nicht.

Dann sah ich, wie mein Vater ins Wasser rannte und zu mir schwamm. Er musste gesehen haben, dass ich in Not war und kam mir zur Hilfe. Langsam konnte ich nicht mehr paddeln und ich spürte, jetzt muss schnell etwas passieren. Mein Vater war ein sehr guter Schwimmer, er hatte sogar seinerzeit den Rettungsschwimmer gemacht und so vertraute ich auf seine Hilfe. Als er langsam in Rufweite kam, war mir so, als rief er: "Spring!". Was? Er konnte doch nicht wirklich von mir wollen, dass ich mein Boot verlasse. Ich dachte, er kommt zu mir an Bord und wir fahren gemeinsam ans rettende Ufer. Da hörte ich ihn wieder rufen: "Jetzt spring!". An seinem energischen Ton hörte ich, ich kannte ihn nur zu gut, dass es ihm äußerst Ernst war! Er rief wieder: "Lass los und spring endlich ab!". Als ich zum Strand blickte wurde mir bei der schon entstandenen Entfernung endgültig klar, es musste sein. Ich war verzweifelt. Ich war wütend. Ich war traurig. Doch ich vertraute auch meinem Vater! Ich wusste, dass er nicht leichtfertig so etwas von mir verlangen würde, wenn es nicht eine ernste Situation gewesen wäre. Ich sprang.

Als ich meinen Vater erreichte, erfasste er mich und ich klammerte mich auf seinem Rücken fest, wie ich es als Kind immer so gern gemacht hatte. Als ich langsam zu Kräften kam, konnte ich wieder selbst schwimmen. Mit letzten Kräften schafften wir die Dünung und ließen uns Richtung Strand treiben. Wir haben es geschafft! Aber alleine wäre es äußerst kritisch geworden. Das wurde mir auch langsam klar und der Schmerz über den Verlust ließ schon ein wenig nach. 

Aus dem anfänglichen Wetterumschwung wurde ein ausgewachsenes Unwetter. Wir saßen in unserem Zelt und um uns schien die Welt unterzugehen. Gewitter, Sturm und Hagel. Als es langsam vorüberzog, ging ich wieder an den Strand und sah all die Verwüstungen, welches das Unwetter angerichtet hatte. Überall umgestürzte Bäume, Hagelschäden, der Strand übersät mit angespülten Müll aus dem Meer. Und weit und breit von meinem Boot keine Spur...

Als ich die Schäden sah, wurde mir immer mehr bewusst, in welch einer Gefahr ich mich befunden hatte. Bei Gewitter auf dem offenen Meer? Nicht gut. Auf einem meiner Spaziergänge in den nächsten Tagen am Strand fand ich doch tatsächlich meine Baumwurzel wieder. Sie hatte ganz schön gelitten. Sollte ich sie wieder aktivieren und ins Wasser ziehen? Irgendwie hatte ich dazu keine Lust mehr. Das Erlebte hing mir noch zu sehr in den Gliedern und ich ließ es sein...

Diese Begebenheit liegt nun schon über dreißig Jahre zurück. Doch immer wieder wurde ich an dieses Erleben aus meiner Kindheit erinnert. Und wenn ich so darüber nachdachte, kamen mir immer mehr Parallelen zum Leben in den Sinn. Was hatte mir mein Vater zugerufen? "Lass los!". Und fiel mir das Loslassen leicht? Nein! Erst als ich nicht mehr weiter wusste, ließ ich los und sprang ab.

Es gibt Menschen, die mit ihrem derzeitigen Leben zutiefst unzufrieden sind. Sie haben vielleicht einen Beruf, der sie nicht ausfüllt sondern den sie sogar hassen. Oder sie arbeiten bis zum wörtlich genommenen "Umfallen" weil sie meinen, ohne mich geht es nicht. Sie stecken in einer Beziehung fest, die sie endlich aufkündigen sollten, weil sie ihnen nicht gut tun, ja sogar schadet! Wir essen vielleicht so manches ungesundes Zeug und wissen dabei ganz genau, dass so das Gewicht einfach nicht zu halten ist und immer weiter steigen wird. Von den Nebenwirkungen ganz zu schweigen. Doch man kann einfach nicht aufhören, einfach nicht loslassen. Obwohl die Vernunft sagt: "Hör auf damit!". Das ganze Innere scheint zu schreien: "Nein, ich kann nicht!" - oder ist es eher ein: "Ich will nicht!"?

Ich hatte damals meinen Vater, der sich aufgemacht hatte, um mir zu helfen und mich sehr energisch aufforderte, endlich zu handeln. Es ist so wunderbar, wenn man liebe Menschen, Familie oder Freunde, um sich hat, die einem ganz ehrlich die Wahrheit sagen und Mut machen, endlich los zulassen. Hören wir auf sie, sie meinen es in ihrer Liebe zu uns nur gut mit einem. 

Was ist eigentlich mit der berühmten inneren Stimme? Haben wir tatsächlich die Fähigkeit im Laufe der Zeit verloren, auf sie zu hören? Oder überhören wir einfach bei all dem Lärm um uns herum, bei all der medialen Ablenkung diesen wichtigen inneren Mahner? Es ist so wichtig, sich immer wieder einmal zurückzuziehen, einen Ruheort zu finden, einen Ort der Stille aufzusuchen. Wir müssen wieder lernen, zwischendurch mal zur Ruhe zu kommen und einmal mehr in sich hineinzuhören. 

Wenn man bei all diesen Gedanken so sein Leben betrachtet, sieht man förmlich eine Sanduhr vor sich und muss zusehen, wie die Zeit unaufhörlich zerrinnt. Keine Sekunde kommt zurück, jeder Moment, der nicht mit Freude und Zufriedenheit ausgefüllt ist geht für immer verloren.

Es ist Zeit zu handeln, jetzt!



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